Einziehung von Wertersatz im Jugendstrafrecht zulässig? BGH-Senate sind sich nicht einig

Die Einziehung von Wertersatz kann weitreichende Folgen haben. Ist sie auch bei Jugendlichen zulässig?

jugendstrafrecht-uneinig
unsplash.com - Tingey Injury Law Firm

Im deutschen Strafrecht gilt das Prinzip der sog. Vermögensabschöpfung. Ein verurteilter Straftäter soll keine Vermögenswerte, welche aus einer Straftat stammen, behalten dürfen. Er soll keinerlei Vorteil aus der Straftat ziehen dürfen.

 

Sofern der aus einer Straftat erlangte Gegenstand sich nicht mehr im Besitz des Verurteilten befindet, sieht das Gesetz vor, dass ein Geldbetrag, der dem Wert des ehemals erlangten Gegenstandes entspricht, eingezogen wird. Geregelt ist dies in § 73 c StGB. Damit soll jeglicher, wenn auch nur vorübergehender Vorteil aus einer Straftat abgeschöpft werden.

 

Für die im Folgenden näher dargestellte Problematik ist von Bedeutung, dass nach alter Rechtslage zur Vermögensabschöpfung eine sog. Härtevorschrift (§ 73c StGB alte Fassung) bestand. Diese wurde im Zuge der Gesetzesreform zur Vermögensabschöpfung am 01.07.2017 ersatzlos gestrichen. Stattdessen findet sich eine Härteklausel nunmehr im Vollstreckungsverfahren. Mit § 459g Abs. 5 S.1 StPO wurde in Fällen der Entreicherung oder sonstigen Unverhältnismäßigkeit ein Vollstreckungshindernis statuiert.

 

Durch die Neuregelung wurde die Frage der Verhältnismäßigkeit von der materiellen auf die prozessuale Ebene verlagert.

 

Es war lange Zeit höchstrichterlich (durch den Bundesgerichtshof) nicht entschieden, ob nach der Gesetzesreform eine uneingeschränkte Anwendung der Regelungen zur Vermögensabschöpfung auch im Jugendstrafrecht erfolgen darf oder ob dies aus Gründen der Billigkeit dem Jugendstrafrecht zuwider laufen würde. Hierbei kommt es insb. auf die Frage der Zulässigkeit der Einziehung von Wertersatz an.

Gewichtige Gründe sprechen dagegen:

Das Jugendstrafrecht ist insgesamt am Erziehungsgedanken ausgerichtet. Normiert ist dieser Grundsatz, der im Jugendstrafverfahren die Rechtsfolgen maßgeblich bestimmt, in § 2 Abs. 1 Satz 2 JGG. Insoweit kann das JGG als lex specialis gegenüber dem StGB angesehen werden.

 

Der Erziehungsgedanke schreibt vor, dass die Sanktionen nach dem JGG insg. auf die Entwicklung des Jugendlichen (dies gilt über § 105 JGG auch für Heranwachsende) keine negativen Auswirkungen haben sollen. Er gebietet es, straffällige Jugendliche vor finanziellen Belastungen zu bewahren.

 

Zum Ausdruck kommt dies u.a. bei Wiedergutmachungsleistungen gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Es ist gem. § 15 Abs. 1 S. 2 JGG untersagt, unzumutbare Anforderungen an den Jugendlichen zu stellen. Selbst die Zahlung eines Geldbetrages i.S.d. § 15 Abs. 2 Nr. 2 JGG (dies kommt dem Charakter einer Geldstrafe auch nahe) darf nur auferlegt werden, um noch vorhandenes inkriminiertes Vermögen „abzuschöpfen“. Der Jugendliche soll diese Auflage aus eigenen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln erfüllen können. Die Vorschrift dient dem Schutz der Entwicklung des Jugendlichen nach einer Verurteilung.

 

Die Schutzfunktion des JGG kommt auch in § 74 JGG zum Ausdruck. Das Gericht kann, um den Jugendlichen vor zusätzlichen finanziellen Belastungen zu schützen, von der Auferlegung der Kosten und Auslagen des Verfahrens absehen. Hintergrund der Überlegungen ist, dass der Ausgang eines Strafverfahrens möglicherweise eine Kostenfolge mit sich bringt, welche der verurteilte Jugendliche einerseits selbst nicht „stemmen“ kann, andererseits ihm als Anlass dienen könnte, weitere Straftaten zu begehen, um zur Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtung in der Lage zu sein. Ein solches Ergebnis ist nicht der Wunsch des JGG.

 

Für Nebenfolgen findet sich der Erziehungsgedanke in § 6 JGG wieder. Bei der Entscheidung über die Einziehung von Wertersatz ist die Berücksichtigung der Grundsätze des jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgensystems unerlässlich, sodass finanzielle Belastungen mit den Auswirkungen im Sinne einer Geldstrafe unzulässig sind.

 

Die Anordnung der Einziehung von Wertersatz kommt wesensmäßig einer Geldstrafe nahe, wobei aufgrund des geltenden Bruttoprinzips der Grad der Sanktion unter Umständen noch höher ist. Unter dem sog. Bruttoprinzip versteht man, dass Aufwendungen (z.B. Geld für den Einkauf von Betäubungsmitteln) nicht abzugsfähig sind. Im Rahmen der Einziehung von Wertersatz führt eine uneingeschränkte Anwendungdes Bruttoprinzips – insbesondere bei Kommissionsgeschäften im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität – regelmäßig zu einer erheblichen finanziellen Belastung, welche das Jugendstrafrecht in allen übrigen, „JGG-eigenen“ Fällen, nicht kennt und gerade vermeiden will.

 

Aufgrund der genannten Besonderheiten des JGG ist „im Jugendstrafverfahren eine jugendadäquate Gesetzesanwendung der §§ 73, 73c StGB geboten, um eine Belastung des Jugendlichen mit sehr hohen, seine weitere Entwicklung gefährdenden, finanziellen Belastungen zu vermeiden.“

 

(LG Münster, Urteil vom12.07.2018 – 10 Ns 14/18)

 

Es würde sich ein Wertungswiderspruch ergeben, würde einerseits das JGG den Jugendlichen jedenfalls finanziell schützen, wäre andererseits jedoch eine uneingeschränkte Anwendung der Neuregelungen über die Einziehung von Wertersatz, verbunden mit einer erheblichen finanziellen Belastung, die der Jugendliche vermutlich aus eigenen Mitteln in absehbarer Zeit nicht begleichen könnte, zulässig. Ließe man dies zu, würde die Anordnung der Einziehung von Wertersatz die Erziehungsmaßregeln des JGG bei weitem überlagern und deren erzieherische Wirkung praktisch „ad absurdum“ führen (so auch AG Frankfurt, Urteil vom29.03.2018 – 905 Ds 4610 Js 218247/17).

Die Rechtsfrage beschäftigt(e) in mehreren Fällen den Bundesgerichtshof (BGH).

Der 5. Strafsenat (BGH, Urteil vom 08.05.2019 – 5 StR 95/19) hat entschieden, dass die Einziehung des Wertesdes Tatertrages auch nach der Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung eine zwingende Rechtsfolge ist. Eine Härtefallprüfung bei Entreicherung des Jugendlichen oder sonstiger Unverhältnismäßigkeit erfolgt ausschließlich im Vollstreckungsverfahren.

 

Dabei argumentiert der 5.Strafsenat des BGH u.a., der Jugendliche stehe nach der Neuregelung sogar „günstiger“ dar, weil bei einer Entreicherung oder einer Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung diese zwingend zu unterbleiben hat (§ 459g Abs. 5 S. 1 StPO). Bei genauerer Betrachtung ist dies aber nur die halbe Wahrheit: Denn sobald sich die Vermögensverhältnisse des Jugendlichen verbessern, nimmt der Jugendrichter die Vollstreckung wieder auf (§ 459g Abs. 5 S.2 StPO). Verjährung tritt gem. § 79 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StGB frühestens nach 10 Jahren ein, nicht jedoch, solange nicht auch die Strafe verjährt ist, die gleichzeitig verhängt wurde.

 

Nach der Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH muss weiterhin geprüft werden, ob die Einziehung von Wertersatz verhältnismäßig ist oder nicht – jedoch erst im Vollstreckungsverfahren, nach einer rechtskräftigen Verurteilung.

 

Aktuell hat der 1. Strafsenat des BGH über einen vergleichbaren Fall im Revisionsverfahren zu entscheiden und beabsichtigt, die Einziehung von Taterträgen weiterhin in das Ermessen des Gerichts vor Verurteilung (im Erkenntnisverfahren, nicht im Vollstreckungsverfahren) zu stellen.

 

Die einzelnen Strafsenate des BGH vertreten somit unterschiedliche Rechtsauffassungen.

 

Aus diesem Grund hat der 1.Strafsenat bei dem 2. und 5. Strafsenat des BGH gem. § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG angefragt, ob dort an der entgegenstehenden Rechtsprechung festgehalten wird. Bei dem 2. und 4. Strafsenat wurde angefragt, ob eine dortige entgegenstehende Rechtsbrechung besteht oder nicht (Quelle: https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/bgh-vermoegensabschoepfung-auch-im-jugendstrafrecht-zwingend-erster-strafsenat-fragt-andere-strafsenate).

 

Das Ergebnis dieser Anfragen bleibt abzuwarten. In jedem Fall dürfte die eingangs gestellte Rechtsfrage noch nicht abschließend geklärt sein.

Aus Verteidigersicht ist es im Jugendstrafverfahren, sofern die Einziehung von Wertersatz in Betracht kommt, weiterhin ratsam, gegen eine Einziehungsentscheidung anzukämpfen. So gilt es zu erreichen, dass bereits im Urteil von der Einziehung von Wertersatz abgesehen wird.

Ein rechtskräftiges Urteil, in dem keine Einziehung von Wertersatz angeordnet wurde, ist bei weitem wertvoller als im Vollstreckungsverfahren ein (gegebenenfalls nur vorübergehendes) Absehen von der Vollstreckung wegen Unverhältnismäßigkeit.